Zuletzt aktualisiert am 05.12.2025 6 Minuten Lesezeit

Wasserfallmodell

Das Wasserfallmodell ist ein klassisches, sequenzielles Vorgehensmodell in der Softwareentwicklung und im Projektmanagement. Der Name leitet sich von der kaskadenartigen Anordnung der Projektphasen ab: Die Ergebnisse jeder Phase fliessen wie bei einem Wasserfall als bindende Vorgaben in die nächste Phase ein. Das Modell gilt als eines der ältesten und bekanntesten Vorgehensmodelle der Softwareentwicklung.

Geschichte und Ursprung

Das Wasserfallmodell wurde 1970 von Dr. Winston W. Royce in seinem Artikel "Managing the Development of Large Software Systems" beschrieben. Interessanterweise verwendete Royce selbst den Begriff "Wasserfall" nicht - dieser wurde erst später von anderen geprägt.

Ein oft übersehener Fakt: Royce präsentierte das rein sequenzielle Modell in seinem Artikel tatsächlich als fehlerhaften Ansatz. Er schlug stattdessen ein iteratives Modell mit Rückkopplungen vor, da er erkannte, dass ein strikt lineares Vorgehen bei grossen Softwareprojekten nicht funktioniert. Dennoch wurde das vereinfachte, strikt sequenzielle Modell in der Industrie weit verbreitet.

Die Phasen des Wasserfallmodells

Das klassische Wasserfallmodell gliedert ein Softwareprojekt in aufeinanderfolgende Phasen. Jede Phase muss vollständig abgeschlossen sein, bevor die nächste beginnt. Je nach Quelle werden fünf bis sieben Phasen unterschieden.

1. Anforderungsanalyse

In dieser Phase werden alle Anforderungen an das System erfasst und dokumentiert. Du erstellst ein Lastenheft mit den Kundenanforderungen und ein Pflichtenheft mit der technischen Spezifikation. Am Ende dieser Phase steht ein vollständiges Anforderungsdokument, das als Grundlage für alle weiteren Phasen dient.

2. Systementwurf (Design)

Basierend auf den Anforderungen wird die Systemarchitektur entworfen. Diese Phase umfasst sowohl das Grobdesign (Systemarchitektur, Komponentenaufteilung) als auch das Feindesign (detaillierte Modulspezifikationen, Datenbankmodelle). Werkzeuge wie UML-Diagramme helfen bei der Visualisierung der Struktur.

3. Implementierung

In der Implementierungsphase wird der eigentliche Programmcode geschrieben. Die Entwickler setzen die im Design festgelegten Spezifikationen in funktionierenden Code um. Die Programmierung erfolgt modulweise, wobei einzelne Komponenten unabhängig voneinander entwickelt werden können.

4. Test und Integration

Nach der Implementierung werden alle Module zusammengeführt und getestet. Diese Phase umfasst Modultests (Unit Tests), Integrationstests und Systemtests. Ziel ist es, Fehler zu finden und sicherzustellen, dass das System die definierten Anforderungen erfüllt.

5. Deployment (Einführung)

Das fertige System wird in der Produktivumgebung installiert und dem Kunden übergeben. Diese Phase beinhaltet die Installation, Datenmigration, Benutzerschulungen und die offizielle Inbetriebnahme. Erst jetzt erhält der Kunde das vollständige Produkt.

6. Wartung und Betrieb

Nach der Einführung beginnt die längste Phase: Die Wartung umfasst Fehlerbehebungen, Anpassungen an neue Anforderungen und die kontinuierliche Pflege des Systems. In der Praxis kann diese Phase mehrere Jahre andauern.

Merkmale des Wasserfallmodells

Das Wasserfallmodell zeichnet sich durch einige charakteristische Eigenschaften aus, die es von anderen Vorgehensmodellen unterscheiden:

  • Sequenzieller Ablauf: Die Phasen werden strikt nacheinander durchlaufen
  • Dokumentationsorientiert: Jede Phase produziert umfangreiche Dokumentation
  • Meilensteine: Klare Abschlusspunkte zwischen den Phasen
  • Frühe Planung: Alle Anforderungen werden zu Projektbeginn festgelegt
  • Begrenzte Rückkopplung: Rücksprünge sind nur zur unmittelbar vorhergehenden Phase vorgesehen
  • Ein Durchlauf: Das Projekt durchläuft jede Phase idealerweise nur einmal

Vorteile des Wasserfallmodells

Trotz seiner Kritikpunkte bietet das Wasserfallmodell in bestimmten Situationen klare Vorteile:

  • Hohe Planungssicherheit: Budget, Termine und Leistungsumfang sind frühzeitig festgelegt
  • Klare Struktur: Der lineare Ablauf ist leicht verständlich und nachvollziehbar
  • Umfassende Dokumentation: Detaillierte Unterlagen erleichtern spätere Wartung und Übergaben
  • Einfache Kontrolle: Fortschritt ist durch definierte Meilensteine messbar
  • Vertragssicherheit: Klare Spezifikationen ermöglichen Festpreisverträge
  • Geeignet für stabile Anforderungen: Funktioniert gut, wenn sich Anforderungen nicht ändern

Nachteile und Kritik

Das Wasserfallmodell wird heute oft kritisiert, da es in vielen Projektkontexten erhebliche Schwächen aufweist:

  • Mangelnde Flexibilität: Änderungen sind kostspielig und aufwändig, sobald eine Phase abgeschlossen ist
  • Spätes Feedback: Der Kunde sieht das Produkt erst am Ende - Fehlentwicklungen werden zu spät erkannt
  • Unrealistische Annahme: Vollständige Anforderungen zu Projektbeginn sind selten möglich
  • Höheres Projektrisiko: Fehler in frühen Phasen pflanzen sich durch das gesamte Projekt fort
  • Keine Zwischenergebnisse: Es gibt keine funktionierenden Teilprodukte während der Entwicklung
  • Starre Phasentrennung: Die strikte Trennung entspricht nicht der Realität der Softwareentwicklung

Studien zeigen, dass Projekte mit dem Wasserfallmodell ein höheres Ausfallrisiko haben als agile Projekte. Das liegt vor allem daran, dass Fehlentwicklungen erst spät erkannt werden und Anpassungen schwierig umzusetzen sind.

Vergleich mit anderen Vorgehensmodellen

Um die Besonderheiten des Wasserfallmodells besser zu verstehen, hilft ein Vergleich mit anderen gängigen Vorgehensmodellen:

Aspekt Wasserfallmodell Agile/Scrum V-Modell
Ablauf Strikt sequenziell Iterativ in Sprints Sequenziell mit Verifikation
Anforderungen Zu Beginn festgelegt Können sich ändern Zu Beginn festgelegt
Kundenfeedback Am Projektende Kontinuierlich Nach Testphasen
Dokumentation Sehr umfangreich Pragmatisch Sehr umfangreich
Flexibilität Gering Hoch Mittel
Testintegration Am Ende Kontinuierlich Parallel zu jeder Phase
Risikomanagement Späte Erkennung Frühe Erkennung Systematisch durch Tests

Das V-Modell ist eine Erweiterung des Wasserfallmodells, bei der jeder Entwicklungsphase eine entsprechende Testphase gegenübersteht. Agile Methoden wie Scrum setzen hingegen auf kurze Iterationen mit kontinuierlichem Feedback. Kanban ermöglicht einen noch flexibleren, kontinuierlichen Arbeitsfluss ohne feste Zeitboxen.

Einsatzgebiete heute

Obwohl agile Methoden in der Softwareentwicklung dominieren, hat das Wasserfallmodell in bestimmten Bereichen weiterhin seine Berechtigung:

  • Regulierte Branchen: Pharma, Medizintechnik, Luftfahrt und Finanzwesen erfordern oft umfassende Dokumentation und Nachverfolgbarkeit
  • Sicherheitskritische Systeme: Bei Software für Flugzeuge oder medizinische Geräte sind strikte Validierungsprozesse vorgeschrieben
  • Projekte mit stabilen Anforderungen: Wenn alle Anforderungen bekannt und unveränderlich sind
  • Festpreisprojekte: Wenn Umfang und Budget vertraglich fixiert werden müssen
  • Eingebettete Systeme: Hardware-nahe Entwicklung mit klaren Spezifikationen
  • Öffentliche Aufträge: Behörden verlangen oft klassische Projektdokumentation

In der Praxis werden heute oft hybride Ansätze verwendet, die Elemente des Wasserfallmodells (z.B. für Planung und Dokumentation) mit agilen Praktiken (z.B. für die Entwicklung) kombinieren.

Das Wasserfallmodell in der Praxis

Als Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung wirst du das Wasserfallmodell vor allem im theoretischen Kontext kennenlernen - es ist ein wichtiges Grundlagenthema in der Ausbildung. In der beruflichen Praxis dominieren heute agile Methoden, doch das Verständnis klassischer Vorgehensmodelle bleibt wertvoll.

Auch Fachinformatiker für Systemintegration begegnen dem Wasserfallmodell, besonders bei Infrastrukturprojekten mit klar definierten Anforderungen oder in Unternehmen mit klassischen Projektmanagement-Strukturen. Die Fähigkeit, verschiedene Vorgehensmodelle zu verstehen und situationsgerecht anzuwenden, gehört zu den wichtigen Kompetenzen in IT-Berufen.

Quellen und weiterführende Links